Wer hat’s erfunden?

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Jürgen von der Lippe klaut von Bill Cosby – an sich eine Todsünde unter Comedians. Die tritt aber in den Hintergrund angesichts der merkwürdigen Arbeitsauffassung von der Lippes.

Vor fast einem Jahr habe ich im Newsletter mal das Bit Rache von Jürgen von der Lippe empfohlen. Der hatte 1987 ein Bit von Bill Cosby von 1967 ins Deutsche übersetzt, marginal abgeändert und wird dafür von seinen Fans bis heute gefeiert. “Einfach genial!!!!!!!!!!!!”, lautet zum Beispiel der jüngste Kommentar unter diesem Video. 

Genial ist vor allem die präzise Übertragung ins Deutsche. “There was one time I really wanted revenge”, beginnt Cosbys Bit, während von der Lippe eingangs sagt: “Einmal in meinem Leben wollte ich Rache.” Es folgt eine Kindheitsgeschichte über eine geplante Schneeballattacke auf Harold (bei Cosby) bzw. Berni Schibulla (bei von der Lippe):

Every time you hit [Harold] with a snowball in the face – BLOP! – he always says the same thing, he says „Hey man, what you want to hit me in the face with a snowball for, man?“Weil immer, wenn man Berni Schibulla einen Schneeball ins Gesicht warf, sagte er das Gleiche: „Eeeeey! Wieso hast du mir einen Schneeball ins Gesicht geworfen?“

Der Plan geht schief, Cosby bekommt von einem lachenden Dritten selbst einen Schneeball ab und will sich rächen, was vorerst nicht gelingt:

I couldn’t find him. And it was 7.30. I had to get home before the monsters come out. And I took that snowball home. And I put it in the freezer. And I waited.Aber er kam nicht. Und dann wurde es dunkel und ich musste nach Hause. Und ich nahm den Schneeball mit und tat ihn ins Gefrierfach und wartete.

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Das geht noch eine Weile so, man muss aber der Fairness halber sagen, dass von der Lippe nicht alles von Cosby abgeschrieben hat. Er hat zum Beispiel auch eine Passage über verschiedene Stadien des Kinderweinens eingefügt, von der ich trotz einigem Suchaufwand keine ursprüngliche Version finden konnte. Soll heißen: Möglicherweise hat er die selbst geschrieben. (Für alle Stand-up-Besessenen und because it’s fun to drösel auf Jokeklau, gibt es hier eine tabellarische Gegenüberstellung der Bit-Transkripte.)

Mei, so war das früher, als es noch kein Internet gab und keinen Humor in Deutschland! So könnte man sagen. Vor kurzem hat mich jemand (danke für den Hinweis!) allerdings auf eine Ausgabe des Talkformats Talk-o-mat auf Spotify aufmerksam gemacht, die so köstlich ist, dass ich das hier festhalten möchte. Im Talk-o-mat treffen immer zwei bekannte Persönlichkeiten aufeinander. Und im Februar 2018 saßen sich eben Jürgen von der Lippe und der Rapper Casper zum Gespräch gegenüber.

Von der Lippe kannte Casper nicht, dafür aber Casper von der Lippe umso besser. So erklärt der Rapper etwa, wie besonders es für ihn sei, der altgedienten Entertainer-Legende gegenüber zu sitzen. Den Honig schmiert er dem Comedian wohl ein bisschen zur Ablenkung ums Maul. Denn später, als die beiden gerade über Kreativität und den Schreibprozess sprechen, bringt Casper das Gespräch ganz zufällig auf „Rache„. Von der Lippe hatte vorher gesagt, dass ihm viele seiner Ideen im Schlaf gekommen seien. Casper fragt, wie ich meine, gespielt naiv: Diese ganzen tollen Ideen, meine Güte, zum Beispiel das mit dem Schneeball – ob das wohl auch so eine Idee sei, die ihm im Schlaf gekommen ist?

Witzklau ist unter Comedians eine Todsünde. Aber ich glaube, trotzdem wäre niemand von der Lippe heute böse dafür, würde er das, was jeder wissen kann, einfach zugeben: “Hey, ja, ich war damals noch so jung, so naiv, wir haben uns alle nichts dabei gedacht! Später haben wir dann ein bisschen mehr Arbeitsethos entwickelt…”

Aber nichts da. Rache, sagt von der Lippe, gehe auf “einen amerikanischen Einfluss”, zurück, “natürlich”, sei aber “nicht eins zu eins” übernommen. 30 Jahre, nachdem er ein damals 20 Jahre altes Bit geklaut hat, also zu einem Zeitpunkt, wo das nun jeder im Internet nachprüfen kann, gibt es vom Comedian ausschließlich Ausflüchte zu hören. (Ich will nicht ausschließen, dass sich von der Lippe seit 2018 zu dem Thema geäußert hat, also nach Erscheinen der Talk-o-mat-Episode. Gefunden habe ich aber nichts dazu.)

Auf Caspers Frage reagiert von der Lippe rasch und etwas schroff und führt das Gespräch weg vom konkreten Bit auf eine allgemeinere Ebene. Es sei ja normal, dass sich Künstler inspirieren ließen, sagt er. Er habe früher öfter Comedyfestivals in den USA und in Kanada besucht. Davon habe er auch immer “Zeug” mitgebracht. “Schon da hab ich gesehen, dass du gar nicht feststellen kannst, wer hat die Sachen denn jetzt erfunden.”

Daraufhin erzählt er eine Anekdote, wie er bei einer Show einmal gemeinsam mit den Comedians Bülent Ceylan und Atze Schröder feststellte, dass alle denselben Witz über Vegetarier im Programm hatten. Anstatt sich über die Einfallslosigkeit des ganzen Berufsstandes zu wundern und sich möglicherweise selbst zu hinterfragen, anschließend völlig zu verzweifeln und einen anderen Beruf zu ergreifen, ziehen die drei dann Streichhölzer, wer den Witz denn dann spielend darf. Von der Lippes Fazit: “Es gibt Gags, die sind so gut, die werden eben weitergereicht.”

Und dagegen sei auch überhaupt nichts zu sagen, denn andere Comedians hätten sich eben auch bei von der Lippe bedient. “Das ist wie mit Kochrezepten, du kannst einfach nicht sagen, ein Gag ist alleiniges Eigentum. Erstmal kannst du es nicht festmachen. Bei Witzen geht es sowieso nicht, die sind ja auch für das Weitererzählen gedacht. Außerdem, es schadet doch nichts…”

Wie soll man es nur festmachen, woher der Gag stammt? Bzw. diese Reihe an Gags, die der Comedian William Henry Cosby Jr. 1967 live in Lake Tahoe, Nevada, sechs Minuten lang gespielt hat, die dabei aufgenommen und später im selben Jahr unter dem Titel “Revenge” als erste Nummer eines gleichnamigen Stand-up-Albums beim kalifornischen Label Warner Bros. veröffentlicht wurden? Wie soll man denn bitteschön festmachen, wer da der Urheber ist? Möglicherweise hat da einer die Lüge vom „amerikanischen Einfluss“ ein paar Jahrzehnte zu lange erzählt, sodass er sie irgendwann selber glaubte. 

So unsäglich und irritierend Jokeklau und seine Vertuschung auch sind: Sie sind nicht das Merkwürdigste und Schädlichste an der ganzen Sache. Das wiederum ist die Auffassung von Comedy, die Jürgen von der Lippe vertritt. In dieser Welt tragen Comedians “Kochrezepte” vor, wollen aber für Sterneköche gehalten werden. Am Label “genial!!!!” stört man sich ja dann doch nicht, während die Frage angebracht wäre, was so genial ist an einem Künstler, der Witze erzählt, die er irgendwo abgelauscht und aufgesammelt hat. Die eigene Arbeit und die zahlloser Kolleg:innen mal eben zum Witzebuchwitz der Geschichte degradiert – dafür muss man die eigene Kunstform schon ziemlich verachten.

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2 Antworten

  1. Mhm, kann es sein, dass Jürgen von der Lippe immer schon ein recht entspanntes Verhältnis zu den Schöpfungen anderer hatte und daran ganz gut (mit)zuverdienen wusste?
    Ich denke da an die von ihm herausgegebenen TV-Begleitbücher wie WWF Witzparade (1989) und Die Witzekiste (1993) usw., in denen von Zuschauern eingesandte Witze veröffentlicht wurden, den Witzigsten Vorleseabend der Welt (der allein vom Material und Kebekus und Malmsheimer lebt, während Jürgen von der Lippe eher etwas stieselig-gestrig durch die Texte schlurft), das Witzigste Vorlesebuch der Welt, „Ist das ein Witz?“ und die Familien-Witzebox…

  2. Der Unterschied zwischen Komiker/Witzeerzähler und Comedians: Komiker können geklaute, mehrfach verwendete Witze performen, weil Sie über dem Witz stehen wollen. Comedians sind involviert in den Witz und im besten Fall geben Sie viel von sich preis. Nach deiner Analyse, vielen Dank für die Recherche, sollte man ihn nie wieder Comedian nennen in der Öffentlichkeit, sondern die Fips Asmussen Gedächtnismedaillie für den Klau von fremden Gefühlen überreichen.

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