Das Comedy Improvisation Manual ist stellenweise ein magisches Buch, mehr noch: Man fühlt sich beim Lesen manchmal wie Zauberschüler Harry Potter im sechsten Band der Reihe. Harry, ein notorisch schlechter Zaubertrankmischer, kommt darin in den Besitz des alten Schulbuchs des titelgebenden Halbblutprinzen. Das Buch enthält nicht nur das Schulwissen, sondern auch das gesammelte Erfahrungswissen des sogenannten Prinzen. Harry Potter ist plötzlich ein Tränke-Streber. Allein der Besitz und das gelegentliche Konsultieren eines besonderen Buchs machen den Anfänger vom einen Tag auf den anderen zur Koryphäe.
Was uns zum Comedy Improvisation Manual führt, bei dessen Lektüre man sich kurzerhand so fühlt, als wüsste man alles, was es über Comedy zu wissen gibt. Es ist das Handbuch der US-amerikanischen Sketch- und Impro-Comedy-Gruppe Upright Citizens Brigade (UCB). Es behandelt long form improv nach UCB-Vorbild, das heißt in etwa szenisches, relatives loses komödiantisches Spiel, das erst im Moment des Spielens entsteht. (Im Gegensatz zur short form, bei der es eher um kürzere Szenen und stärker regulierte „Spiele“ geht.)
„Relativ lose“ ist allerdings schon eine gnadenlose Untertreibung. Es ist eine gängige Fehlauffassung, dass improvisierte Comedy gleichbedeutend sei mit anything goes. Im Gegenteil: Es gibt viele Konventionen und mehr oder weniger klar formulierte Regeln. Aber erst diese eröffnen den Raum, in dem sich die Darsteller:innnen kreativ entfalten können.
Diesen Konventionen widmet sich das Manual, das nicht das erste Werk über Impro-Comedy ist, aber in seiner absolut praktischen Ausrichtung ein sehr besonderes. Es zeigt unter anderem: Warum gibt es nicht einfach eine einzige Regel, und zwar be funny? Was macht ein gutes Thema für eine Szene aus? Wie finden die Darsteller:innen – Achtung: Schlüsselbegriff – ihr Game, das Herzstück der UCB-Lehre. Game bedeutet, sich gemeinsam beim Spiel auf ein gewisses Muster zu einigen und diesem dann auch zu folgen. Wenn ein Darsteller spielt, er hätte Bindungsängste beim One-night-stand, verwirrt es das Publikum, wenn die Bühnenpartner:innen darauf nicht einsteigen. Nur wenn die improviser ihr game gefunden haben, kann eine Szene funktionieren. Begleitet wird das im Buch von zahlreichen Beispielen, Übungen und Aufwärmspielen.
Das Comedy Improvisation Manual: dogmatisch, praktisch, gut
Verfasst wurde das Manual von Matt Besser, Ian Roberts und Matt Walsh, die die UCB Anfang der 1990er Jahre (gemeinsam mit Amy Poehler) gründeten. Bis in die 2010er Jahre war Impro-Comedy in den USA immer beliebter geworden. Die UCB unterhielt nicht nur eigene Bühnen in New York und Los Angeles, sondern stand auch im Rang einer staatlich anerkannten Ausbildungsstätte für Schauspiel. Das 2013 veröffentlichte Manual sollte dann helfen, die UCB-Lehre auch denen näherzubringen, die keine Impro-Seminare besuchen konnte.
Der Ton ist dabei äußerst dogmatisch und erinnert an basalen Frontalunterricht, was dem Manual auch Kritik eingetragen hat. Mick Napier, Impro-Theater-Lehrer und Gründer des Annoyance Theatre in Chicago, einer eher absurd ausgerichteten Impro-Bühne sagte der NY Times: „[UCB] ermuntern Leute dazu, auf eine bestimmte Weise zu denken, und diese Denkweise ist oft tödlich für gute Improvisation.“ Ian Roberts nannte diese Kritik damals „lächerlich“. „Das zeigt eine Geringschätzung von Improvisation. Würde man so jemandem zeigen, wie man Auto fährt? Wie man anfängt, Ballett tanzt?“ Soll heißen: ganz ohne Regeln.
Eine Grundsatzdiskussion in Impro-Comedy und -theater, die im Manual aber keinen Raum bekommt. Es ist eben genau das: ein Manual, das die UCB-Methode mit vielen Tipps und Anweisungen erklärt und das seiner einmal eingeschlagenen Methode dann konsequent folgen muss. Auch einen geschichtlichen Abriss von Impro-Comedy oder der UCB gibt es nicht.
Das Besondere ist jedoch: Nicht nur improviser können mit dem Buch arbeiten. Ein Blick hinein empfiehlt sich vielmehr allen Menschen, die mit Humor arbeiten. Denn die UCB-Schule hat viele Begriffe gefunden, um Phänomene zu beschreiben, die auch bei anderen Kunstformen wie etwa der Stand-up-Comedy relevant bleiben.
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Ein Beispiel dafür ist das Konzept der base reality. So wird die Übereinkunft der Darsteller:innen bezeichnet: bezüglich der Charaktere, des Orts, der genauen Beschaffenheit des Raums und der Situation. Das Finden der base reality ist die erste und wichtigste Aufgabe der improviser. Sie ist der Hintergrund, vor dem sich Comedy erst abzeichnen kann. Können sich die Darsteller:innen nicht auf eine base reality einigen, ist das Publikum verloren. Das lässt sich problemlos etwa auf Stand-up übertragen: zum Beispiel, wenn Comedians absurden Joke an absurden Joke reihen, es aber versäumen, das Publikum über ihre Position in der Welt aufzuklären. Im Ergebnis landen sie nach UCB-Duktus in Crazy Town:
„In einer Crazy-Town-Szene sind so viele absurde Elemente im Spiel, dass es schwierig wird, das Ungewöhnliche vom Gewöhnlichen zu unterscheiden. […] Vor dem Hintergrund einer verrückten Welt wird euer Game nicht deutlich hervortreten.“
Damit einher geht das Prinzip at the top of your intelligence. Das heißt nicht, dass man sich besonders klug stellen, sondern eher im Einklang mit gängigen Auffassungen und Überzeugungen spielen soll. Improviser sollen spielen, als wären sie normale Menschen, nicht den schnellen Lacher suchen. Für Comedians generell kann es bedeuten: Schildere schlüssiges Handeln. Das schließt verrückte Aktionen oder Ansichten nicht aus, aber die Verrücktheit muss ebenso Regeln folgen, damit sich ein Publikum darauf einlassen kann.
Es gibt keine Abkürzung in der Comedy
Das Comedy Improvisation Manual ist voll mit solchen Denkanstößen. Es ist ein großartiges Nachschlagewerk, ein Steinbruch, aus dem sich jeder herausschlagen kann, was er gerade für seine Comedy brauchen kann. Leider, leider, leider ist es in letzter Konsequenz natürlich nicht wie das Zaubertrankbuch des Halbblutprinzen. Denn auch der musste sich, bevor er seine genialischen Tipps hineinkritzeln konnte, erst lange mit der Kunst beschäftigen. Diese Arbeit nimmt einem das Manual nicht ab. Es zeigt: Regeln und Kreativität schließen sich nicht aus. Aber es gibt keine Abkürzung.
Nichts erspart einem die Übung und damit auch die schlimmen Momente auf der Bühne. Aber selbst für die haben Besser, Roberts und Walsh noch den nötigen Trost parat:
„Sometimes, however, you and your scene partner will have absolutely bombed. In this situation, there was a complete absence of laughter in reaction to you scene. In other words, there is no fun to follow in this scene. In these situations, you can take solace in the fact that you have nowhere else to go but up.“
Bücher über Comedy
Was ist Humor, wie schreibt man einen Witz und was haben berühmte Comedians in ihren Leben erlebt? Diese Rubrik widmet sich dem, was wir aus Büchern über Comedy lernen können.
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