Chair feet.
In der Stand-up-Szene wird viel experimentiert, das ist einerseits sehr schön. Andererseits, nun, führt mich das kurz zum schlechtesten Open Mic, auf dem ich jemals war. Kaum Menschen im Publikum, auf der Bühne ein vielleicht zugekokster Moderator, der uns Zuschauer aggressiv anging, weil wir halt sehr wenige waren. Mich fragte er ob ich beschnitten sei, und zwar ungefähr eine Minute lang. Das ging dann so: „Ja? Nein? Ja oder nein? Beschnitten oder nicht? Bist du beschnitten? Ja? Hm, wie siehts aus? Ja, nein? Hm, hm?“ Ich war zuerst zu perplex, um zu antworten, dann zu fasziniert. Der beste Comedian des Abends rutschte auf zwei Stühlen durch den Raum und sang „Chair feet, chair feet, who’s afraid of chair feet“.
Lustigerweise ist das nicht in der deutschen Provinz passiert, nicht in München, auch nicht in Berlin, sondern in einem Stand-up-Keller in New York. Also im Mutterland der Stand-up-Comedy, im Schoß, ach was: in der Gebärmutter der Stand-up-Comedy. Ziegelwand inklusive. Schockierend? Nein. Ich fand es eher beruhigend. Auch Stand-up-Comedy ist nicht zwangsläufig brillant, nur weil sie aus den USA kommt. Klingt banal, kann an sich aber durchaus öfter vergegenwärtigen.
Mit der neueste heiße Scheiß aus den USA ist übrigens long form improv, eine spezielle Form der Impro-Comedy. (Bzw. für die USA auch schon wieder etwas abgehangenerer Scheiß.) Viele von den Autorinnen und Autoren, die Comedy-Serien für Netflix, Amazon etc. schreiben, sind in long form geschult. Der Trend könnte irgendwann auch nach Deutschland schwappen, wo er bislang kaum bekannt ist. Von der Berliner Autorin und Improviserin Antonia Bär habe ich mir erklären lassen, was es mit dem Ganzen auf sich hat.
Neu bei Setup/Punchline…
… gibt es diese Woche das genannte Interview mit Antonia Bär. Antonia ist Autorin, Comedienne, Improviserin, aber zuallererst ist sie natürlich Comedy-Nerd. Sie erklärt, was genau long form improv ausmacht und wie man sich als vorsichtig interessierter Mensch einen guten Eindruck von diesem Genre machen kann.
Außerdem habe ich vor kurzem den Joker-Film mit Joaquín Phoenix gesehen. Dessen Alter Ego Arthur Fleck will ja Stand-up-Comedian werden, was allerdings schief geht. Viele Artikel wurden deshalb darüber geschrieben, warum Arthurs Witze so schlecht sind und was er auf der Bühne alles falsch macht. Meine Meinung dazu: Quatsch. Was man in Joker sieht, hat mit Stand-up-Comedy gar nichts zu tun.
Comedy-News
- Netflix will weniger Geld für große Stand-up-Specials ausgeben. Unklar ist, ob das schlecht ist, weil weniger Specials. Oder gut, weil nun andere Streaming-Dienste vorpreschen können.
- Für das Werbeplakat des Leicester Comedy Festivals haben Comedians Jokes gespendet.
- Heute-Show-Moderator Oliver Welke sprach an der Universität München über Satire, was sie kann, was sie darf, was sie sollte. Neue Gedanken gab es diesem Artikel nach aber offenbar nicht zum Thema.
- Comedian Ingmar Stadelmann startete mit der „Abendshow“ im rbb. Recht gut funktioniert hat das nicht (siehe etwa hier). Bei DWDL spricht er darüber, was er mit der Show vorhat.
- Der Comedian, der für Dave Chapelle das ist, was die Jazzmusiker Gillespie und Parker für Miles Davis waren: Tony Wood hat es nie in den Mainstream geschafft. Sein Einfluss ist unbestritten.
Lese-Tipp: I Called Out David Letterman
Comedy schwebt nicht im luftleeren Raum. Darum an dieser Stelle ein Tipp für einen Artikel, in dem sich viele gesellschaftliche und politische Linien mit denen von Comedy, Stand-up und Late-Night-Shows kreuzen. Eine bemerkenswerte Geschichte über Nell Scovell, eine Frau, die den Talkmaster David Letterman dazu brachte, sich dafür zu entschuldigen, seine Macht missbraucht zu haben.