Materialschatz mit Lücken: „The Comedians“

Die US-Comedians Jerry Seinfeld, Jerry Lewis, Maria Bamford und Joan Rivers
Die US-Comedians Jerry Seinfeld, Jerry Lewis, Maria Bamford und Joan Rivers
Vier aus Abertausenden US-Comedians: Seinfeld, Lewis, Bamford, Rivers (Collage: Setup/Punchline)

Geschichte wird von Siegern geschrieben, das bedeutet in den meisten Fällen: von Männern. Und damit sind wir schon beim größten Manko vom The Comedians. Drunks, Thieves, Scoundrels and the History of American Comedy. In dieser Geschichte der (US-)amerikanischen Comedy haben Frauen offenbar keine große Rolle gespielt. Zumindest hat Autor, Comedian und „Human Encyclopedia of Comedy“ Kliph Nesteroff, dazu wenig zu sagen.

Aber zunächst zwei Schritte zurück: Es gibt wohl kein anderes, auch nur annähernd so umfassendes Werk wie The Comedians. Es deckt die vergangenen 150 Jahre Comedy in den USA ab, von den Revuen der Vaudeville-Theater über den Aufstieg, Fall und erneuten Aufstieg der Stand-up-Comedy bis zum Podcast-Hype und zum Tod von Robin Williams im Jahr 2008. Auf mehr als 400 Seiten werden Aberhunderte Comedians, Clubs, Shows und TV-Formate eingeführt, Anekdoten, Zitate und Zusammenhänge ausgebreitet.

Nesteroff, Kliph: The Comedians. Drunks, Thieves, Scoundrels and the History of American Comedy. New York: Grove Atlantic 2015. 425 Seiten.

Minutiös zeichnet Nesteroff nach, wie die Fackel der Comedy über Generationen weitergereicht wurde. Comedy-begeisterte Leser:innen können mit dem Stoff aus dem Buch ihren Mitmenschen über Monate auf die Nerven gehen: Wusstest du eigentlich, dass Lenny Bruce mal nackt moderiert hat? Wusstest du, dass Comedians in Los Angeles mal gestreikt haben? Wusstest du…?

Die Leistung, das alles zusammenzutragen, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Und doch hat man beim Lesen das Gefühl, dass manches fehlt. Niemand hat Vollständigkeit erwartet, die bleibt das unerreichbare Ideal der Historiker. Eher ist es so, dass die schiere Fülle des Materials in The Comedians die Lücken viel klaffender hervortreten lässt.

Das Geschlecht – Hindernis für Comedians?

Am deutlichsten wird das eben bei den Frauen. Nur ganz wenige kommen in The Comedians vor, etwa Joan Rivers oder Phyllis Diller. „Gender was a stand-up obstacle“, hält Nesteroff am Beispiel von Rivers fest. Daran kann es natürlich liegen. Allerdings erfährt man im Buch auch wenig über die, die die obstacles von Stand-up und Comedy im Allgemeinen überwunden haben. Zum Beispiel Lucille Ball, Bette Midler, Whoopi Goldberg, Tina Fey oder Sarah Silverman. Stellenweise wird das sogar absurd: Comedienne und Talkmasterin Ellen DeGeneres zum Beispiel ist anscheinend bedeutend genug, um mit aufs Cover zu dürfen (übrigens ein Zitat des Beatles-Albumcovers von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band), bleibt im Buch dann aber komplett unerwähnt.

Fast ganz ausgespart wird auch Saturday Night Live, immerhin seit 1975 auf Sendung und verlässlicher Produzent von Nachwuchsstars, Skandalen und Medieninteresse. In The Comedians wird SNL im Gegensatz zu anderen vergleichbaren Sendungen nur in Nebensätzen abgehandelt.

Nesteroff hat mehr als 200 Interviews für The Comedians geführt. Wenn man böse ist, könnte man sagen: Offenbar wurde in diesen Interviews kaum über Frauen oder über SNL gesprochen. Wohlmeinender ausgedrückt: Egal wie viele Quellen man befragt, es werden nie genug sein, um ein adäquates Bild zu zeichnen.

Stand-up-Comedian Kliph Nesteroff im Gespräch mit Mel Brooks
Stand-up-Enzyklopädie Kliph Nesteroff (links) im Gespräch mit Mel Brooks (Foto: Blaine Washington via cc by sa 3.0)

Es ist ein Grundproblem der Geschichtsschreibung. Viele Autor:innen weichen dem aus, indem sie Thesen und Argumente formulieren oder Bögen spannen, die das Material ordnen und strukturieren. Nesteroff dagegen hält meistens an der Utopie der Vollständigkeit fest. Umso auffälliger und besser wird es, wenn er sich davon löst und selbst Thesen formuliert. Wie etwa im Kapitel über die Entstehung der Stand-up-Comedy in den 1950er Jahren.

Der Weg nach innen: Stand-up in den 1950ern

Der Autor stellt die These auf, dass Frank Fay der erste Stand-up-Comedian gewesen sei. Fay habe Comedy personalisiert, was ein Meilenstein war auf dem Weg zum subjektiven humoristischen Sprechen über den Alltag:

„Fay spoke not of himself but of others. The comedy was always about some elusive guy. ‚Did you hear about the guy who…‘, ‚A fella was walking down the street when…‘ In the mid-1950s no longer was it ‚a fella‘ walking down the street. For the first time comedians told the audience: ‚I was walking down the street.’“

Auftritt der großen Trias US-amerikanischer Stand-up-Comedy Lenny Bruce, Mort Sahl und Johnathan Winters. Im Gegensatz zu den schauspielenden Comedians („What they sold to their audience was an illusion“) verfolgten diese einen anderen Ansatz:

„Bruce derived subject matter from the depths of his personality. Jonathan Winters in New York and Mort Sahl in San Francisco were doing likewise at the same time. These three comedians […] performed material that was by its very nature theft-proof. To take a Jonathan Winters improvisation, transcribe it and put it in the mouth of another man would have been futile. For Norm Crosby to recite the lines of Mort Sahl would have been pointless. For a guy named Jackie to improvise in a strip club in the style of Bruce would have been an embarrassment.“

Dieser Argumentation muss man insgesamt nicht folgen, um sie trotzdem als Denkanstoß akzeptieren zu können. Im Gegensatz zu den anekdotischen Passagen regen die Thesenabschnitte die Leser zur Beschäftigung an. Wie gesagt: Nesteroff tut dies nur an sehr wenigen Stellen, wahrscheinlich, weil es sonst der größte Teil des Materials gar nicht ins Buch geschafft hätte. So hätte man auf Atmosphäre, auf Kneipenschlägereien oder gar auf den nackten Lenny Bruce verzichten müssen. Und das wäre dann ja auch wieder schade gewesen.

Bücher über Comedy

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Was ist Humor, wie schreibt man einen Witz und was haben berühmte Comedians in ihren Leben erlebt? Diese Rubrik widmet sich dem, was wir aus Büchern über Comedy lernen können.
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