Die perfekte Imperfektion fürs Wohnzimmer: „KussKuss Komedy Digital“

Jonas Imam und Sebastian Rohner bei KussKuss Komedy Digital
Jonas Imam und Sebastian Rohner bei KussKuss Komedy Digital
Moderator Jonas Imam und KussKuss-Elton Sebastian Rohner (Screenshot: KussKuss Komedy)

Open-Mics sind die perfekte Imperfektion. Meist finden sie in Hinterzimmern von Bars oder in stickigen Kellerräumen statt, in der Regel auf viel zu kleinen oder schlecht ausgeleuchteten Bühnen. Vordermann oder Hinterfrau lachen immer viel zu penetrant. Und trotzdem muss man sie einfach liebhaben. Die Aufregung vor der Show; die erste Reihe, die sich aus Feigheit des Publikums heraus ganz zuletzt füllt und die Aufwärmspielchen des Moderators. Inzwischen vermissen Fans von Live-Stand-up ja sogar fast schon das Klappern umfallender Flaschen.

Trotz – oder gerade wegen – ihrer Imperfektion sind Open-Mics essentiell für eine funktionierende und produktive Stand-Up-Comedy-Szene. Sie bieten regelmäßig Stagetime, auf die Comedians so sehr angewiesen sind. In den coronabedingten Zwangspausen im Frühjahr 2020 und seit Herbst 2020 war und ist der Tenor bei vielen Comedians daher: Warum überhaupt neues Material schreiben, wo doch Auftrittsmöglichkeiten fehlen?

Um Abhilfe zu schaffen, starteten einige Berliner Comedians ein Experiment: KussKuss Komedy Digital nennt sich das Format, das Open-Mics in die digitale Sphäre hieven soll. Am 17. April wird nun schon die vierte Ausgabe im Livestream übertragen. Organisiert und moderiert wird das Ganze von Jonas Imam und Kalle Zilske, die auch bei der Prä-Pandemie-Version von KussKuss durch den Abend führten, im Deriva in Neukölln. Dave von Felten und die Dosa Film und Fernsehproduktion produzieren die Show. Statt in der üblichen Location findet das Open-Mic in den Fairmedia Studios statt, keine 20 Gehminuten vom Deriva entfernt.

Was macht Open-Mics so wichtig für Stand-up?

Wer noch nie ein Open-Mic erlebt hat, hält KussKuss Komedy Digital wohl für eine für das Fernsehen oder den Stream produzierte Comedysendung. Mit mehreren Kameras, Live-Regie und eingespielten Clips scheint das Programm auf den ersten Blick wenig vom Do-It-Yourself-Charakter verqualmter Hinterzimmershows bewahrt zu haben. Doch bietet die Show anderes als die gängige Comedy im TV: Moderatoren, die direkt mit digital zugeschalteten Zuschauern interagieren, noch nie gehörtes Material und Comedians, die sichtlich erfreut sind, wieder auf einer echten Bühne zu stehen.

Eine digitale Show wird ein echtes Open-Mic niemals ersetzen können. Und das möchten auch weder Künstler noch Publikum. Aber kann ein digitales Open-Mic immerhin ein adäquater Ersatz sein?

Zunächst ein Blick zurück, um zu klären, was Open-Mics eigentlich so wichtig für Comedy macht. Vor einigen Jahren gab es kaum welche. Doch seit ungefähr zehn Jahren entwickeln sich in ganz Deutschland offene Bühnen, die sich auf Stand-Up-Comedy spezialisieren. Von Berlin bis Tübingen und von München bis Bremen hoffen Comedians und solche, die es werden wollen, auf einen Spot, der meist fünf bis sieben Minuten Ruhm oder Schmerz bedeutet. Trotz des ungewissen Ausgangs schätzen Comedians das Open-Mic als sicheren Raum, in dem sie neue Ideen austesten können.

Stand-up entsteht im Dialog mit dem Publikum

Anders als die meisten Kunstformen kann Stand-Up-Comedy nur im Zusammenspiel mit dem Publikum entstehen. Das Publikum trägt zwar meist wenig bei, allerdings ist Stand-up auch kein Monolog der Performer, sondern eher ein recht einseitiger Dialog. Das Open-Mic ist ein Ort, an dem Comedians scheitern dürfen: Anhand der Reaktionen erkennen sie, welcher Witz funktioniert und bei welchem noch an Timing, Wortwahl oder Struktur gearbeitet werden muss. Oder welche gar nicht zünden, weil die Themen das Publikum nicht fesseln. Zwischen einer ersten Idee und dem fertigen Bit können manchmal Jahre vergehen. Gemeinsam mit dem Publikum wird das Material der Comedians ausgehandelt – und nur vor Publikum können Comedians Bits, wie es dann heißt, rundspielen.

Wie schwierig es ist, ganz ohne Feedback durch das Publikum aufzutreten, zeigt sich in den vielen Zoom-Shows, die seit Beginn der Pandemie existieren. Das Team von KussKuss Komedy: Digital hat diesen Makel digitaler Shows zum Anlass genommen, ein besseres Format zu entwickeln, sowohl für erfahrene Comedians als auch für Anfänger.

Szene von Kusskuss Komedy Digital
Die erste Reihe im Online-Open-Mic (Screenshot: KussKuss Komedy)

Das sieht dann so aus: Vor der Bühne im Studio befinden sich zwei große Bildschirme, auf denen 24 Streams zu sehen sind. Das sind die Zuschauer mit Interaktiv-Tickets, die per Audio- und Videorückkanal an der Show teilnehmen. Eine digitale erste Reihe, die die meisten Comedians bei KussKuss auch für Crowdwork nutzen. Die restlichen Zuschauer:innen können die Show per Live-Stream verfolgen (für 7,50 Euro), haben aber keinen Rückkanal.

Das Setup ermöglicht Spielereien, die bei einem analogen Open-Mic nicht möglich wären, etwa die Einspieler mit Comedian Sebastian Rohner. In der zweiten Ausgabe der Show im Februar versuchte Rohner in einer an Wetten, dass…? angelehnten Saalwette, ein Katapult zu bauen. Außerdem wird immer wieder zur Comedienne und Illustratorin Ingrid Wenzel geschaltet, die die Künstler:innen und Elemente aus deren Bits zeichnerisch darstellt.

Die Hürde zum persönlichen Gespräch sinkt bei KussKuss Komedy Digital

Ohne ein bisschen Zoom-Call-mit-Oma-Feeling kommt dann leider auch KussKuss Digital nicht aus. Zum Beispiel, wenn Zuschauer mit Interaktiv-Tickets sich unterhalten, ohne ihr Mikro stumm zu schalten. Zum Glück sind geübte Comedians an Heckler gewöhnt, auch wenn diese in diesem Fall gar nicht wissen, dass sie stören. In der Februarsendung wurde die Show zwischenzeitlich von einem Zuschauer gecrasht, der forderte, dass seine Bekannte endlich aus dem Warteraum in den Stream gelassen wird. Ob das nun besser oder schlechter ist, als wenn ein Barkeeper mitten in einer analogen Anmoderation ein Bierglas zerbricht? Stichwort perfekte Imperfektion – Moderator Jonas Imam ließ sich auf jeden Fall nicht aus dem Konzept bringen.

Ingrid Wenzel und Kalle Zilske bei Kusskuss Komedy Digital
Live-Illustratorin Ingrid Wenzel und Moderator Kalle Zilske (Screenshot: KussKuss Komedy)

Auffällig ist, dass das Setting die Hürde zum direkten Gespräch zu senken scheint. Das gilt in beide Richtungen. Zum einen versuchten sich bei den bisherigen Ausgaben fast alle Comedians auch am Crowdwork. Zum anderen fühlte sich auch das Publikum, wohl aus der Sicherheit des eigenen Wohnzimmers heraus, regelmäßig zum Dazwischenquatschen berufen.

Für die Comedians scheint das Format als Übergangslösung zu funktionieren. Sie haben erkennbar Spaß daran, neues Material zu testen und wieder auf einer Bühne zu stehen, und sprechen dies auch wiederholt an. Kann aber ein einzelnes digitales Open Mic in Deutschland das Netzwerk aus Dutzenden Shows in der ganzen Republik ersetzen? Reicht es zumindest, um den neuesten Witz zu perfektionieren? Die Antwort muss in beiden Fällen nein lauten.

KussKuss Komedy: Digital ist trotzdem ein lohnendes Projekt. Es zeigt, dass die Stand-up-Szene eigene Formate entwickeln kann und daraus neues kreatives Potenzial entsteht. Und vielleicht hilft es sogar dem ein oder anderen Comedian, nicht ganz einzurosten. Der wichtigste Punkt ist: Es gelingt KussKuss Komedy: Digital, für einen Abend die verrückte Einzigartigkeit eines Open-Mics ins Wohnzimmer nach Hause zu bringen. Und das macht richtig Lust auf echte Live-Shows.

Am 17. April gibt es die vierte Ausgabe von KussKuss Komedy: Digital, diesmal als „Streaming-Mixshow“ mit fünf getesteten Zuschauer:innen im Studio. Hier gibt’s Tickets und Informationen zur Show.