Der Witz des Theseus

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Vom Komponisten Irving Berlin heißt es, dass er einzig in der Tonart Ges-Dur spielen konnte. Ges-Dur heißt, man drückt auf dem Klavier ausschließlich die schwarzen Tasten und macht damit sicher nichts falsch. Und trotzdem hat Berlin über 1000 Songs geschrieben, darunter einige der berühmtesten der amerikanischen Geschichte. Oder der ehemalige Fußballer Arjen Robben: Der machte immer wieder denselben Trick, zog von der rechten Außenbahn nach innen und schoss mit Links. Alle wussten es, alle sahen es kommen. Trotzdem schoss er auf diese Weise Tor um Tor.

Da kann ja jemand nur eine einzige Sache: One-trick ponies haben oft einen schlechten Ruf. Zu Unrecht! wie die Beispiele Berlin und Robben zeigen. Kommt halt drauf an, welche Sache das ist, und wie gut man sie beherrscht.

Die bekanntesten One-trick ponies in Stand-up sind Ricky Gervais und Dave Chappelle. Beide haben jüngst neue Specials veröffentlicht, Gervais Armageddon, Chappelle The Dreamer – beziehungsweise haben sie zum vierten oder sechsten Mal das eine Special veröffentlicht, das sie halt immer veröffentlichen.

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Gervais etwa reißt immer vermeintliche gesellschaftliche Tabus ein. „Ricky Gervais will rausfinden, wie weit er gehen darf beziehungsweise gehen muss, bis es kracht“, schreibt Marlene Knobloch in ihrer Rezension von Armageddon in der Süddeutschen Zeitung – und ist damit der PR-Abteilung des Comedians schon auf den Leim gegangen. Eine Grenze findet man ja langsam tastend, einen Schritt vor, einen zurück, ah – bin ich grade drüber gegangen?

Gervais dagegen bulldozert sich regelmäßig darüber hinweg und verweist dann drauf, dass sie da irgendwo gewesen wäre, die Grenze. Es ist keine Suche – nach was auch? In den meisten Fällen ist doch ohnehin geklärt, wo die Grenzen liegen. Gervais überschreitet sie ganz kalkuliert und gibt sich im Nachhinein den weisen Anstrich, irgendein Erkenntnisprojekt zu verfolgen. Das ist nicht ohne Kunstfertigkeit. Aber halt inzwischen so schrecklich langweilig.

Dave Chappelles Trick ist das Lamentieren über trans Personen, ja, das Verbreiten von Hass, das anschließende Klagen, gecancelt zu werden. „Was sagt es über einen Comedian aus, wenn er seit Jahren dieselben Witze über dieselben Minderheiten macht?“, fragt Oliver Polak, seinerseits Comedian, in seinem Artikel über The Dreamer im Spiegel.

Zum einen, dass es eben Abnehmer für diese Witze gibt, ein großes Publikum, möglicherweise das größte der Welt. Zum anderen, dass Chappelle für sich entschieden hat, diesem Bedarf an immergleichen Witzen abzuhelfen. Seinem Erfolg tut das selbstredend keinen Abbruch, aber künstlerisch spannend ist daran wenig. Schon lustig, dass gerade Menschen, die sich sonst gerne über die Agenda „linksgrüner“ Comedians beklagen, sich an einer Agenda gegen trans Personen nicht stören.

Manch einer will auch nach drei Specials voller Anti-Trans-Agitation partout keine Agenda erkennen. „Do these comedians really hate marginalized folks? Or is their real target the culture of victimhood and white knighting that increasingly surrounds us?“, fragt etwa Comedian und Newsletterautor Matt Ruby.

Es war doch ganz anders gemeint! Ich habe mich mit dieser Vorstellung, Comedians sagten A und meinten aber mit B etwas komplett anderes, nie anfreunden können. Man kann natürlich alles in alles hineininterpretieren. Aber um überzeugend der Auffassung sein zu können, ein Comedian meine B, muss B meiner Meinung nach irgendwie doch in A angelegt sein. Aussagen verwandeln sich nicht durch Wunschdenken in andere (möglicherweise sogar widersprechende). Dazwischen steht ein Künstler, der bestimmte Dinge tut und bestimmte eben lässt. Was ist die Pointe in The Dreamer, fragt Oliver Polak in seinem Text. Dass alle Menschen Vorurteile hätten, sich aber am Ende nicht davon leiten lassen sollten? „Wenn ja, dann hat [Chappelle] vergessen sie einzubauen.“

„I‘m over [jokes about trans people] and want him to use his billiant comedic mind to tackle something new“, schreibt Ruby in seinem Newsletter und wirft damit ein bekanntes philosophisches Paradoxon auf: Wenn man nacheinander alle Planken eines Schiffs austauscht, bleibt das Schiff das gleiche oder ändert sich sein Wesen und, falls ja, in welchem Moment? Theseus ist der Besitzer des Schiffs in diesem Gedankenspiel, mit dem sich schon Generationen von Philosophiestudent:innen beschäftigt haben.

Und das Paradoxon um die Comedy von Dave Chappelle oder Ricky Gervais geht ähnlich: Wir wechseln alle Witze eines brillanten Comedians aus – one joke at a time. Ab wann hört das brilliant comedic mind auf, ein brilliant comedic mind zu sein? Noch gibt‘s ein paar alte Planken, das hält die Hoffnung der Rezensenten am Leben.

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