Zu hart für Bad Salzuflen!

Der Comedy-Newsletter von Setup/Punchline: News über Stand-up, Comedy und Kabarett
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Deutsche Comedy ist verkalkt. Nicht per se, und schon gar nicht, weil sie Comedy auf Deutsch ist. Sie ist verkalkt, weil viele Comedians sie wissentlich verkalken.

Dazu ein aktuelles, aber doch zufällig herausgegriffenes Beispiel (es gäbe Dutzende andere), nämlich die Show Fressefreiheit des Comedians Ingmar Stadelmann. Stadelmann hat das Programm zwar schon vor ein paar Jahren gespielt, allerdings nun Ende Dezember einen kompletten Live-Mitschnitt auf seinen Youtube-Kanal veröffentlicht. Der stammt von einem Auftritt 2019 im Heimathafen in Berlin.

Eine andere Ausgabe von Fressefreiheit, von einer Show in Solingen, gibt’s seit 2020 als reines Audioalbum zu hören. Zweimal die gleiche Show also? Wie wunderbar ist das denn bitte? Denn natürlich ist es ja nicht die gleiche Show: Man merkt unmittelbar, wie ein Künstler Bits umstellt, Themen vorzieht oder Nummern streicht. Man hört, was gut funktioniert, was weniger; man erlebt, wie eine perfekte Schlussnummer an einem schlechten Tag verheizt werden kann. Man erfährt, dass ein Comedyprogramm ein Prozess ist. Dass es lebt.

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Stadelmann steht am Schnittpunkt verschiedener Traditionslinien deutscher Comedy, und so wird an seiner Person auch deutlich, wie Comedians in Deutschland häufig noch zu kämpfen haben: Neben originellen persönlichen Jokes finden sich in Fressefreiheit auch zahlreiche Relikte des magischen Realismus der Comedy aus den 1990er-Jahren und des politischen Kabaretts. Übertrieben ausgeschmückte Storys, die in einem fort die Richtung ändern, wechseln sich ab mit moralischen Beipackzetteln oder Reflexionen über das Wesen von Klischees. Man wäre ja gern derb, dunkel und böse. Aber weil es in Deutschland halt lange üblich war, dass Bühnenkünstler:innen Kommentare zu Politik und Gesellschaft abgeben, flicht man halt Kommentare zu Politik und Gesellschaft ein.

Ob man das mag oder nicht, ist Geschmacksfrage. Ich habe in den beiden Fressefreiheit-Shows allerdings auch zwei Unsitten entdeckt, die sich leider immer noch in Comedy halten und von denen sich Künstler:innen (nicht nur Stadelmann) doch bitteschön mal trennen sollten.

1. Der ersten Reihe Angst machen

Na, wer seid ihr denn? Setzt euch bei ‘ner Comedyshow in die erste Reihe? Mutig, mutig! Ihr wisst schon, was das heißt? Etc. pp. ad infinitum. Solche Sätze hört man sowohl bei Profis wie Stadelmann als auch beim lokalen Open-Mic. Sie reduzieren die Kunstform Bühnencomedy in der Wahrnehmung des Publikums auf „wo man in der ersten Reihe blöd angequatscht wird“. Menschen in Deutschland haben bei Comedyshows – aus welchen Gründen auch immer – Skrupel, sich in die erste Reihe zu setzen. Mit dem Anquatschen beweist man ihnen, dass ihre Skrupel berechtigt sind. Und all ihre Vorannahmen wahr. Sollte Comedy nicht eher überraschend sein?

2. Publika bei verschiedenen Shows vergleichen

Das ist ein besonderes Anliegen tourender Comedians (denn kleinere haben gar nicht die Gelegenheit dazu). In Stadt X wurde hier aber mehr gelacht! In Y ist an der Stelle einer aufgesprungen und hat gerufen… Stadelmann kultiviert es in Fressefreiheit geradezu, indem er in ein Notizbuch notiert und dabei „aha, zu hart für Berlin“ oder „der hier geht in Solingen also nicht“ murmelt. Das sichert den Status, da es Aufmerksamkeit und Erfahrung des Künstlers betont. Gleichzeitig wälzt es Verantwortung für die Comedy ab. Es ist, als würde der Comedian sagen: Meine Witze sind großartig – ihr seid nur nicht tough oder lustig genug, um zu lachen. Die Schuld am ausgebliebenen Lachen wird dann einer ad-hoc gebildeten Gruppe (den „Solingern“ bzw. den „Berlinern“ zugeschoben, was abstrus ist: als würde die Eigenschaft, „Solinger“ zu sein, verhindern, dass ein Mensch bei einem bestimmten Witz lacht. Sollte ein guter Witz nicht überall funktionieren? Gibt es nicht vielleicht eine Person, die dafür Sorge zu tragen hätte, dass ein Witz unabhängig vom Publikum funktioniert? Jemand, der dafür bezahlt wird gar?


Wie viel Zeit nehmen die Verarsche der ersten Reihe oder der Vergleich von Stadt X und Y in Comedyprogrammen ein? Fünf? Sieben? Zehn? Das ist nicht viel, schon klar. Aber diese Minuten sind faul. Sie sind unoriginell. Sie sagen nichts aus über die Fähigkeiten eines Comedians, außer über die, Zeit zu schinden. Sie sind das Kalk in den Adern einer Show.

Würden alle Comedians in Deutschland sie weglassen, würden die ohnehin viel zu langen und langatmigen Shows (90 Minuten aufwärts!) entschlackt. Und wenn sich die Comedians stattdessen etwas Originelles überlegten, wären die Shows sogar spannender. Auf jeden Fall wäre es ein leuchtendes Beispiel für nachrückende Künstler, die bislang immer noch glauben müssen, dass so Publikumsansprache geht.

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