Comedy vs. Bullshit

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Vor mehr als 100 Jahren erschien Fritz Kochers Aufsätze, das erste Buch des Schweizer Schriftstellers Robert Walser. Nach dem frühen Tod des (fiktiven) Schülers Fritz veröffentlicht ein Lehrer dessen gesammelte Schulaufsätze. Nicht weil die so genial wären, nein. In der Herausgeberfiktion heißt es: „Seine Augen […] haben von der großen Welt, nach der er sich hinausgesehnt hat, nichts sehen dürfen. Dafür ist es ihm vergönnt gewesen, in seiner kleinen hell zu sehen […].“ Fritz staunt und reimt sich aus Schülerperspektive einzigartige, bisweilen dumme, aber immer liebenswerte Dinge über die Welt zusammen.

Walser hat das über einen Schüler geschrieben, aber er könnte genauso gut Comedians gemeint haben. Denn die tun ja das Gleiche: Sie nehmen ein kleines Stück Alltag aus einer eng umgrenzten Welt, drehen und wenden es, besehen es sich von allen Seiten, legen es wieder zurück – und dann passiert, in den besten Fällen, das Wunder: Das Stück passt besser in die Lücke als vorher. Oder es passt nicht mehr. Oder plötzlich ist gar keine Lücke mehr da. Oder das Stück ist kaputt gegangen. Oder, oder, oder. Comedy ist vielfältig.

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Manchmal beschränken sich Comedians aber nicht mehr auf diese kleine Welt, in der sie hell sehen. Das kann dazu führen, dass ihre Kunst verwässert. Oder, wenn sie gar keine Kunst mehr machen wollen, führt es dazu, dass sie nur mehr Bullshit absondern. Joe Rogan ist wohl der prominenteste Vertreter der letzten Gattung. Geschätzt erreicht Rogan mit jeder Episode der Joe Rogan Experience mehrere hundert Millionen Hörer:innen. Spotify soll der Exklusivdeal mit ihm vor einem Jahr 100 Millionen US-Dollar wert gewesen sein.

Immer wieder hat Rogan fragwürdige Gäste in seinem Podcast, er gibt Nazis, Impfskeptikern und Verschwörungstheoretikern die größtmögliche Plattform. Immer wieder sagt er frauen- und transfeindliche Dinge. Gegen Covid empfahl er vor einigen Monaten mal Vitaminpräparate, kürzlich sagte er, junge Menschen bräuchten sich nicht impfen zulassen. Beides Unsinn, aber er hatte es ja eh nicht so gemeint, hieß es dann wieder, außerdem sei alles aus dem Kontext gerissen. Da mag was dran sein, aber Rogan ist ja auch kein Idiot. Er kann nicht ernsthaft überrascht davon sein, welche Wirkung seine Worte haben. Und trotzdem fällt ihm das immer wieder erst hinterher auf. Dafür, dass Comedians angeblich so gut im Nachdenken sind, denkt Joe Rogan erstaunlich wenig nach und meistens reichlich spät.

Nazi? Impfskeptiker? Egal, Hauptsache aufrecht!

Gut möglich, dass die Hörer:innen das schon einordnen können und den Podcast wegen der angenehmen Gesprächsatmosphäre schätzen. Who knows? Gut möglich, dass sie es nicht tun, dass sein Podcast Frauen- und Transhass normalisiert, dass er dafür sorgt, dass Menschen sich und andere gefährden, weil sie sich nicht impfen lassen. In den sozialen Medien kann man lesen, wie Roganhörer fanatisch jedes seiner Worte verteidigen. Zumindest die klingen nicht so, als würden sie seinen Bullshit differenziert betrachten.

Klar, er ruderte dann zurück: Er sei ja keine verlässliche Quelle. „If I say things, I’m always going ‘check on that […]I don’t know if that’s true“, sagte er. „But I at least try to be honest about what I’m saying.“

Das ist eine beliebte Strategie, die der US-amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt einmal in seinem wunderbaren kleinen Essay mit dem Titel On Bullshit beschrieben hat. Die Argumentation: Da die Welt heute so komplex sei, ist es quasi unmöglich, sie in unserer Rede überhaupt richtig darzustellen. Viele verschiedene Erklärungsmodelle können gleichberechtigt nebeneinander stehen. Who am I to judge? Hauptsache ich bin honest gegenüber mir selbst. Es klingt, als hätte Frankfurt den Essay mit Rogan im Hinterkopf geschrieben. Aber der war 1986, als das Buch herauskam, erst 19 und noch weit davon entfernt, Comedian oder Podcaster zu sein.

Die Welt ist komplex, aber immerhin bin ich aufrichtig. Laut Frankfurt ist dieser Gedankengang nur die letzte Ausprägung einer gefährlichen Beliebigkeit, des Hangs, nur noch Dinge zu äußern, nicht weil man an deren Richtigkeit oder Falschheit glaubt, sondern einfach weil es einem irgendwie in den Kram passt. Auch die Lüge erkenne immerhin (wenn auch in der Abgrenzung) die Wahrheit als Instanz an. Der „Bullshitter“ dagegen ignoriert überhaupt diese Kategorien. Frankfurt schreibt: „Aus diesem Grunde ist Bullshit ein größerer Feind der Wahrheit als die Lüge.“ Bullshit, wie ihn Joe Rogan maßlos und in Serie produziert, sollte uns mehr wert sein als ein Schulterzucken.