Till Reiners: Bescheidenheit (2019)

Till Reiners wird irgendwann einmal Ausflüge auch ins Schauspiel unternehmen, ist zumindest mein Eindruck beim Sehen seiner Show Bescheidenheit, aufgezeichnet noch während der Coronazeit 2019 im Berliner Ritter Butzke. Allerdings keiner dieser fachfremden Schauspieler, etwa wie Campino, wo alle die Schultern zucken und denken, ja mei, er ist halt auch eigentlich Sänger. Nein, womöglich ist er dann sogar ein sehr überzeugender, kompetenter Schauspieler, so facettenreich ist zumindest sein Spiel auf der Bühne und so on point sind sogar seine improvisierten Gesichtsausdrücke (das G’schau bei 2:37!)

Thematisch geht es in Bescheidenheit um vieles, von harmlos („Ich kann jetzt Englisch!“) über AGBs, Cum-Ex, eine schillernde kleine Szene in der Berliner U-Bahn, die zur gesellschaftlichen Allegorie auf die Tragik der Debattenkultur mutiert; hin zu Amokfahrten und Terroranschlägen. Sehr schön über Nazis: „Wenn du den Holocaust leugnest als Nazi, bist du ein ganz schön schlechter Nazi.“ Selbst bei den abgedroschenen Themen (Menschen, die in der Bahn ständig quasseln und nerven) bemüht er sich um einen Twist (er selbst ist der Mensch, der immer quasselt und nervt).

Reiners Perspektive ist dabei immer die des rückständig-infantilen Spießbürgers und verpassten Boomers, der diese Rolle aber voll für sich akzeptiert hat. Aus diesem Grund hört man viele naseweisen Gedanken, aber wenig persönliche Anekdoten, denn der reflektierte (weiße, cis-hetero) Spießbürger weiß ja, wie langweilig er als Person ist.

In dieser sicheren Nische kann Reiners dann auch „gefährlichere“ Themen bearbeiten, wie die Passage über Amokfahrten auf Weihnachtsmärkten zeigt. Sehr elegant ist dabei dieses gespielte Sich-selbst-Revidieren, nachdem er merkt, wie er selbst Blödsinn redet, wenn es darum geht, wie Kommunen sich Lkws ausleihen, um zu testen, ob ihre Terrorabwehrblöcke funktionieren. Und der Balanceakt gelingt etwa auch, wenn es um drogensüchtige, wohnungslose Menschen am Kottbusser Tor geht. Dann wird eben nicht ein Mensch bloßgestellt, sondern die gesellschaftliche Kälte thematisiert, die einen schon viel zu sehr an den Anblick von Leid gewöhnt hat.

Das Austarieren gelingt also erstens inhaltlich, zweitens logistisch – Reiners klatscht dem Publikum diese Art Jokes nicht im ersten Moment hin, sondern baut die Schärfe nach und nach ein. Eine Banalität, aber eine, die gerne unter den Tisch fällt. Und drittens, durch ausgiebige self-deprecation: Reiners ist selbst so oft Ziel seiner Witze (wieder: „Ich kann jetzt Englisch!“), gibt sich selbst so oft im Vorbeigehen noch eine kleine Spitze mit, die verrät, dass er seinen Platz ganz genau kennt (vgl. seine Äußerungen über FDP-Mann Christian Lindner) – das Publikum kann gar nicht anders, als Vertrauen zu fassen, das dann auch in den „gefährlicheren“ Momenten vorhält. Insgesamt muss niemand ein flaues Gefühl im Magen kriegen. Reiners hält die Zügel in jedem Moment mit eisernem Griff, aber lässt es ganz lässig aussehen.

Bescheidenheit, 1h 24min, abrufbar auf Youtube

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