Comedy-Presseschau vom 23.12.24

  • Jahaaa, Comedy ist wichtig heutzutage! Das hämmert einem der Setup/Punchline-Newsletter tagaus, tagein ein. Aber nur selten kann man die gesellschaftliche Relevanz so deutlich mitverfolgen wie am Beispiel der in Deutschland von Bully Herbig adaptierten Spielshow Last One Laughing (LOL). Das schauen nicht nur ungemein viele Menschen, sondern spielen es dann zu Hause nach: Das LOL-Kartenspiel, die Sendungsversion für den Wohnzimmertisch, ist im Weihnachtsgeschäft einer der Topseller bei Amazon. Naja, oder es landet dann in irgendeiner Ecke. Aber es liegt dann zumindest dort herum und kann zukünftigen Archäologen Rätsel aufgeben.
  • Der Autor Leo Fischer bringt in der Dezemberausgabe der Titanic eine typisch deutsche Verhaltensweise auf den Begriff. Kondensathumor nennt er, was „bei Deutschen echten Witz ersetzt“, nämlich den Rückgriff auf Humorzitate à la „Hurz!“ oder „Krawehl!“. „Loriot, Kerkeling, Monty Python oder Erika Fuchs zu zitieren, enthebt der Notwendigkeit, selbst geistreich, lustig oder originell sein zu müssen – gleichzeitig kann das Zitat, gegen die Gegenwart gerichtet, jedes Bemühen um Neues vernichten.“
  • Podcast-Empfehlungen: In Streuner von hinten sprechen die Leipziger Comedians Björn Seidel, Malou Benischke und Henning Wechsler über das Aufwachsen im Osten und wie die deutsche Teilung auch in der Stand-up-Szene fortwirkt. Vier Feinde beschäftigen sich kritisch mit der faulen Comedy von Nizar. Und in Hotel Matze war wieder mal Felix Lobrecht zu Gast, um über seine aktuellen Comedyprojekte zu sprechen.
  • Bei der Grimme Akademie gibt’s eine Nachlese zur Fachtagung Was gibt’s zu lachen?, die Ende November wieder in Köln stattfand. Die Entwicklungen in Sachen Künstliche Intelligenz im writers‘ room sollten vor allem Comedyautor:innen im Auge behalten. Ansonsten, Comedy in a nutshell im Jahr 2024: „Man darf auch mal wieder eine Perücke aufsetzen.“ 🙃
  • Oliver Hochkeppel wird es in der Süddeutschen angesichts der diesjährigen Verleihung des Passauer Scharfrichterbeils „angst und bange“. Die Teilnehmer an dem Nachwuchswettbewerb, der das Scharfrichterbeil ja sein will, waren allesamt über 30 und relativ gestandene Profis. Dafür am wenigstens könnten allerdings die Veranstalter, denn es gebe „derzeit offensichtlich keine anderen, qualifizierten, jungen Bewerber“, so Hochkeppel, und weiter: „Was nicht nur etwas über den Zustand der Kabarettszene aussagt, sondern auch über den der Politik, der Gesellschaft, der Demokratie.“ An den Veranstaltern und dem eventuell etwas erkalteten Draht zum Zeitgeist wird’s nicht liegen, eher noch sind Gesellschaft und Demokratie kaputt.
  • Der Poetry-Slammer Nils Frenzel sinniert bei Zeit Online darüber, dass die Kunstform auch wegen Professionalisierung und Kommerzstreben an Zauber verloren hat: „Als Poetry-Slammer bediente man in meiner Vorstellung nicht Themen, die gesellschaftlich relevant sind, sondern setzte selbst Themen, die dadurch relevant wurden.“ All das scheint mir eins zu eins auf Stand-up-Comedy übertragbar.
  • Zum (vorläufigen, aber vermutlich doch endgültigen) Bühnenabschied des bayerischen Comedians Günter Grünwald gab’s noch ein sehr lesenswertes Interview in der Süddeutschen Zeitung. Drei kurze Gedanken hierzu:

    1.) Mit ihrer Einschätzung „Das Derbe war bei Ihnen von Anfang an Programm“ tun die Journalisten Grünwald unrecht. Ja, er war oft derb, aber er war kein derber Künstler. (Lesen Sie bald mehr in meiner literaturwissenschaftlichen Proseminararbeit Das Derbe als ästhetische Kategorie im Werk Günter Grünwalds.)
    2.) „Zuletzt ist oft geschrieben worden, wir sollen keine Witze über Menschen mehr machen“, sagt Grünwald. Wo, frage ich mich, wo um alles in der Welt ist so etwas geschrieben worden? Nachgefragt wird aber natürlich nicht, weil es halt zu gut in das bei großen Medien willkommene Cancel-Narrativ passt.
    3.) Sehr schön ist die Erzählung von Grünwalds Karrierebeginn:

    „Ich hatte drei Kinder und kein Geld. Das Arbeitsamt wollte, dass ich in einer Eichstätter Schuhfabrik anfange. Ich bat darum, mir bitte noch drei Monate Zeit und Arbeitslosengeld zu geben, damit ich ein Kabarettprogramm schreiben kann. Der Sachbearbeiter sagte: Herr Grünwald, Sie ham an Vogel! Er hat sich aber drauf einlassen. Ich schrieb das Programm, nahm mit dem Scharfrichterhaus Kontakt auf und bewarb mich um das Scharfrichterbeil. Ich war schon 32 und hab tatsächlich gewonnen. Von da an konnte ich davon leben.“

    Das erinnert in einer Zeit fortschreitender Kulturkürzungen nochmal deutlich daran: Soziale Politik ist die beste Kulturförderung.
  • Die Schere bei den Veranstaltungen geht bekanntlich immer mehr auseinander. Eine gute Idee ist es da, bei den Mega-Events ein bisschen was für die breite Basis abzuzwacken. Im Vereinten Königreich setzt sich in der Musikszene etwa der Music Venue Trust erfolgreich dafür ein. Unter anderem haben Coldplay zugesagt, die Gewinne ihrer Tour 2025 teilweise an die Organisation zu spenden, die damit dann kleine lokale Künstler:innen fördert. Wäre an sich auch ein gutes Modell für die Comedyindustrie: Bei einer XXL-Comedynacht (z. B. Tickets in Köln ab 45 Euro) würde man 50 Cent auf die Tickest aufschlagen, die niemandem wehtun. Wären bei 20.000 Zuschauer:innen dann 10.000 Euro für die lokale Szene.
  • Der New Yorker Comedian Matt Ruby nimmt in seinem Newsletter Comedians in Schutz: „Please consider that comedians are not actually right wing but just desperate for followers/audience/attention and will go wherever and talk to whomever in order to gain them.“ Na wenn das so ist! Ich zitiere wie zuletzt noch einmal Marc Maron: „Whether or not they are self-serving or true believers in the new fascism is unimportant. They are of the movement.“

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