Politik

Wieduwilts Woche Antisemitismus stinkt, aber nicht jeder riecht ihn

Selenskyj-Livestream in Davos: schlank und freundlich, ohne hervorstechende Nase oder abstehende Ohren.

Selenskyj-Livestream in Davos: schlank und freundlich, ohne hervorstechende Nase oder abstehende Ohren.

(Foto: picture alliance/dpa/KEYSTONE)

Einer deutschen Tageszeitung fällt es schwer, ein paar Jahre ohne antisemitisch konnotierte Karikaturen auszukommen. Bei der Häufigkeit von Vorfällen stellt sich die Frage: warum eigentlich?

Wenn etwas im Leben schiefgeht, ist es gut, wenn man einen Schuldigen findet: An den Affenpocken sind die Homosexuellen schuld und, na klar, Bill Gates. Von dort ist es nur ein Katzenwurf zum "Great Reset": Eigentlich ist das eine Initiative des Weltwirtschaftsforums aus dem Jahr 2020. Man wollte aus der Pandemie lernen. Daraus wurde in Knallkopf-Zirkeln schnell eine Weltumgestaltungstheorie, in der das Virus willkommener Partner war für die "Rothschilds" und die Familie Soros - im Verschwörungsland führen eben alle Wege zum Juden.

Insofern ist das Nachfolgende eigentlich alles keine Überraschung, verstörend aber durchaus. Beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum sprach also auch Wolodymyr Selenskyj, Jude und ukrainischer Präsident. Er wurde dafür über einen großen Bildschirm eingeblendet, wohl deutlich größer als der damals im Bundestag, und das sorgte für Präsenz. So viel Präsenz, dass die "Süddeutsche Zeitung" (SZ) das für karikaturesk hielt. Die von ihr veröffentlichte Zeichnung zeigte dann jedoch etwas anderes - in den Augen mancher Beobachter jedenfalls.

Selenskyj ist auf der Zeichnung übergroß, die Weltelite ist unter ihm im Kreis versammelt, er hat irgendwie glubschige Augen, irgendwie eine leichte Hakennase, sitzt irgendwie gekrümmt. Viele Irgendwies, aber sie kreisen um eine Kernidee: übermäßiger Einfluss auf die Weltelite. Und diese drei Körpermerkmale sind antisemitische Chiffren.

Wie der "Stürmer"

Das fiel neben vielen Beobachtern auch dem Grünen-Politiker Volker Beck auf, der Publizist Alan Posener sprach sogar von Ähnlichkeit mit einer Karikatur aus dem Nazi-Blatt "Stürmer". Nichts da, rechtfertigt sich die SZ, das sei ja einfach nur "eine zeichnerische Umsetzung".

Das ist seltsam, denn außer in Gerichtsprozessen pflegt man in Zeitungen eigentlich nicht die Realität in Zeichnungen "umzusetzen". Karikaturen stehen für einen spöttischen Blick, einen Kommentar, eben ein inhaltliches "Mehr" zur Realität. Was soll man, bitte, mit einem gezeichneten Pressefoto anfangen? Man könnte angesichts der vielen Irgendwies und des unangenehmen Themenkreises die Achseln zucken und noch einmal die Trennung von Bibi und Julian recherchieren.

Doch die SZ fällt nicht zum ersten Mal mit dieser Art von, sagen wir mal: "Humor" auf. Im Jahr 2018 veröffentlichte sie eine Karikatur auf Benjamin Netanjahu. Der damalige israelische Ministerpräsident stand als, klar, Kriegstreiber, in einer Eurovision-Manege, hatte abstehende Ohren und schwang eine Rakete mit dem Davidstern. Lustig! So lustig, dass sich die Zeitung von ihrem Zeichner trennte.

Alle paar Jahre Antisemitismus

Fünf Jahre zuvor hatte die Zeitung eine Zeichnung von Ernst Kahl mit neuer Bildunterzeile versehen, die dem Gesamtwerk eine "Stürmer"-Anmutung verlieh. In der "Jüdischen Allgemeinen" äußerte sich der Zeichner entsetzt.

Dann war da die Karikatur von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg: ein Krake - vielleicht ein "Datenkrake". Doch mit der Hakennase und den Tentakeln waren das nun recht unverkennbare Anleihen beim "Stürmer", wie das Simon-Wiesenthal-Zentrum monierte. Sie ahnen vielleicht schon, in welcher werten Zeitung diese Karikatur im Jahr 2014 erschien.

Alle paar Jahre, so scheint es, halten sich SZ-Redakteure beide Augen fest zu und winken durch, was auch immer ihnen jemand ins Blatt zeichnet. Dabei ist recht unerheblich, was die jeweiligen Zeichner selbst dachten. Man kann antisemitisch sprechen oder zeichnen, ohne Antisemit zu sein. Es geht nicht um Verdammung einer Person, nicht einmal einer Zeitung. Es geht auch nicht darum, ob man mit absoluter Wahrscheinlichkeit, quasi per Nazometer, den Antisemitismus-Gehalt bestimmen könnte.

Ein Näschen für den Gestank

Es geht um Sensibilität und Verantwortung der Redaktion: Dass niemandem dort diese klaren antisemitischen Chiffren (Nasen, Kraken, Kriegstreiberei) aufstießen, ist schlicht verstörend. Es gibt immer einen anderen Weg zur Pointe - man muss doch nicht über den Schlamm der Judenfeindlichkeit balancieren.

Die Sensibilität für Antisemitismus ist allerdings unweigerlich auch eine (Selbst-)Bildungsfrage: Wer sich mit Zeichnungen im "Stürmer" und antisemitischen Stereotypen nie beschäftigt hat, der zuckt natürlich nicht. Antisemitismus ist eben ein dezenter Gestank, für den man erst ein Näschen entwickeln muss.

Ein Datenschutzaktivist wetterte kürzlich unter anderem gegen Facebook mit einer Darstellung, die auf Anhieb an "Judensau"-Karikaturen aus dem "Stürmer" erinnerte: Das Unternehmen sog auf der Darstellung an den Zitzen einer Sau. Debatten um diese "Judensau", eine mittelalterliche judenfeindliche Darstellung, gibt es immer wieder, kürzlich etwa in Regensburg.

Streit um die "Judensau"

Just am kommenden Montag verhandelt der Bundesgerichtshof, ob die Wittenberger "Judensau" eine Beleidigung darstellt - dabei handelt es sich um ein Hunderte Jahre altes Sandsteinrelief an einer Kirche. Die Plastik zeigt eine Sau, an deren Zitzen Menschen saugen, ein Rabbiner schaut dem Tier in den After. Ein jüdischer Rentner durchschreitet seit Jahren die Instanzen, er will das Relief entfernt sehen oder aber die juristische Feststellung, dass es sich um eine Beleidigung handele.

Antisemitismus und die mit ihm mitschwingenden Verdächtigungen sind leider nicht totzukriegen: Juden als heimliche Weltregierung, Lenker der Presse und Infiltratoren des Literaturbetriebs, all das ist nicht neu, aber leider auch nicht überwunden - im Gegenteil, die Pandemie hat ihn deutlich verstärkt, wie kürzlich der Verfassungsschutz in seinem "Lagebild" dokumentierte.

Mehr zum Thema

Traurig: Die geradezu patzige Weigerung vieler Deutscher, sich für diese Chiffren zu sensibilisieren, sich gegen sie zu stemmen, um sie für alle Zeit zu verbannen, reicht bis in Redaktionen renommierter Zeitungen. Diese absichtsvolle Blindheit ist vertraut. In Bezug auf die NS-Vergangenheit hat der Maler Martin Kippenberger es mit der unsterblichen Formulierung "Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen" gut pointiert.

Die SZ sitzt die Aufregung diesmal offenbar aus, nachdem sie beim Fall Netanjahu noch Besserung gelobt hatte. Lang kann es also nicht mehr dauern, dann heißt es wieder: "Ich kann beim besten Willen keinen Antisemitismus erkennen."

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen